Prisma das Fernsehmagazin ihrer Zeitung Nr. 37/2024 13.09.2024
Das Germanische Nationalmuseum hat die einzigartige und hochwertige Schweizer Zinnfiguren-Sammlung – von Alfred R. Sulzer mit mehr als 145 000 Stücken bekommen.
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Der Mann mit den 140 000 Zinnfiguren
Alfred Sulzers Sammlung von Spielsoldaten ist Zeugnis einer vergangenen Epoche – jetzt gibt er sein Lebenswerk nach Deutschland ab.
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Zinnfigurensammlung zieht um
Noch lagert die Sammlung von Alfred Sulzer in grossen Kartonschachteln in Stein am Rhein. Ein Grossteil der Zinnfiguren wird im Juni dem Germanischen Museum in Nürnberg übergeben, der Rest macht einen Umweg über Chur – wegen einer Auseinandersetzung mit dem Vermieter.
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Dieses Baby trägt eine silberne Windel
Spielzeug und Miniaturwelt: Wie Zinnfiguren die Zeitgeschichte, den „Struwwelpeter“ und sogar die Kolonialkriege zu den Deutschen nach Hause brachten, zeigt eine Ausstellung in Nürnberg.
Als der Nussknacker zur Schlacht ruft, machen sich auch die silberfarbenen Soldaten bereit. Sie steigen aus den Kistchen in der Wohnzimmervitrine, in denen sie aufbewahrt werden, und „defilieren Regiment auf Regiment mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel bei Nussknacker vorüber“. Dann geht es in die Schlacht gegen eine Schar von plötzlich im Zimmer aufgetauchten Mäusen, die aber unfairerweise mit Kotkügelchen werfen und die schönen Uniformen der Soldaten beschmutzen – kein Wunder, dass sich die Armee fluchtartig zurückzieht.
E. T. A. Hoffmanns Märchen „Nussknacker und Mausekönig“, entstanden 1816, spielt im Haus einer wohlhabenden Familie, deren Kinder zu Weihnachten beschenkt werden: Beide bekommen illustrierte Bücher, die Tochter Marie außerdem Puppen und ein Kleid, der Sohn Fritz eine Reihe von Miniatursoldaten, die seine bereits vorhandene Sammlung ergänzen. Sie stellen Husaren dar, „die sehr prächtig in Rot und Gold gekleidet waren, lauter silberne Waffen trugen und auf solchen weißglänzenden Pferden ritten, dass man beinahe hätte glauben sollen, auch diese seien von purem Silber“.
Nimmt man alles zusammen, den Silberglanz, die Bemalung, die Abbildung realer und wiedererkennbarer Uniformen, die Aufbewahrung in passenden Schachteln und nicht zuletzt die Übermittlung als Weihnachtsgeschenk, so hat man das Bild von Zinnfiguren vor sich, wie sie vom späten achtzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert in deutschen Kinderzimmern einer bestimmten sozialen Schicht weit verbreitet waren.
Dass sie als Spielzeug dienten, zugleich aber auch zur künstlerischen Abbildung der Wirklichkeit jenseits allen Spiels, zeigt nun eine prächtige Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, das damit einmal mehr seinen Ruf als aufschlussreicher Spiegel vergangener Alltagskultur bestätigt. Der Anlass dafür ist eine Schenkung: Der Schweizer Unternehmer Alfred R. Sulzer hatte schon als Jugendlicher mit dem Sammeln, Kaufen und Verkaufen von Zinnfiguren begonnen. Einige erbte er von Verwandten, andere ersteigerte er auf Auktionen, und mit dem Erlös von Doubletten oder weniger interessanten Figuren finanzierte er weitere Zukäufe für die eigene Sammlung, die schließlich auf unvorstellbare 145.000 Stück angewachsen war. Nun stiftete er sie dem Germanischen Nationalmuseum.
Die Auswahl, die daraus für die Sonderausstellung „Mikrowelten Zinnfiguren“ getroffen wurde, ist von überwältigender Fülle und Vielfalt. Zudem geht es dem Kuratorenteam um Claudia Selheim nicht nur um eine Ausbreitung der Bestände und deren Deutung, was anspruchsvoll genug wäre, sondern auch um die Ausleuchtung der Produktionsbedingungen und des Vertriebs, um die Frage also, wie die ausgestellten Zinnfiguren hergestellt und unter die Käufer gebracht wurden.
Dafür ist Nürnberg mit seiner traditionsreichen Spielzeugindustrie ein guter Ort, das Museum sowieso, dessen reiche Bestände vom Alltag vergangener Generationen erzählt. Hier ermöglicht es die ausufernde Sammlertätigkeit des Stifters, dass etwa Vorlagen besichtigt werden können, mit deren Hilfe in Heimarbeit – auch von Kindern oder Häftlingen – die gelieferten blanken Zinnfiguren bemalt wurden. Solche Vorlagen sollten sicherstellen, dass etwa die Uniform der Miniaturhusaren auch der ihrer Vorbilder entsprach. Die Hersteller und Verkäufer, die ihre Kataloge von Nürnberg oder Berlin aus bis nach Nordamerika verschickten, gingen offenbar von einem in Fragen der Ähnlichkeit sensiblen Publikum aus.
Als populäres Spielzeug sind Zinnfiguren längst abgelöst worden
Dass man Zinnfiguren vererbt und so über die Zeitläufte bringt, ist – allen Katastrophen zum Trotz – nicht unwahrscheinlich. Dass man aber, wie in der Sammlung Sulzer – auch die Verpackung nach über hundert Jahren noch mitbetrachten kann, ist selten. Hier gewinnt man ein Gefühl dafür, dass Figurenensembles gefertigt und gemeinsam in einem entsprechend geschmückten Kasten vertrieben wurden, als Set, das ein Stück Wirklichkeit einfangen sollte.
Und das überraschend häufig auch aus dem nichtmilitärischen Bereich – den Zinnsoldaten stehen hier zahlreiche friedliche Figuren gegenüber. In Nürnberg sind einige dieser Gruppen mit wunderbar filigranen Konturen zu sehen: ein Markttreiben mit unterschiedlichen Ständen und Verkäufern, eine Jagd, häusliche Arbeiten, die etwa das Kochen, Spinnen, Haspeln und das Wickeln eines Babys umfassen und dergleichen mehr. Andere greifen populäre literarische Stoffe auf wie den „Struwwelpeter“ oder Robinson Crusoe – wer als Zinnfigur ins Kinderzimmer einzog, der hatte es geschafft.
Die Figuren sind meist winzig, ob häufig mit ihnen gespielt wurde oder ob sie als kleine Preziosen in Glasschränken aufbewahrt wurden, wüsste man gern. Und auch bei den militärischen Sets, bei Soldaten wie den Weihnachtshusaren von E. T. A. Hoffmanns Fritz, ist es schwer vorstellbar, dass die in Nürnberg gezeigten oft in den Kampf gezogen sind, so frisch wirken die meisten von ihnen. Diese Sets stellen oft bestimmte Truppenteile in Schlachten dar, die für die Käufer fast noch zeitgenössisch waren – in der Ausstellung sieht man etwa die Schlacht von Königgrätz, nachgestellt mit wenig später entstandenen Figuren. Was man nicht ohne Weiteres sieht, weil sie hinter Vorhängen verborgen sind, die man erst beiseiteheben muss, sind Szenen aus Kolonien in Afrika. Was damals in die Kinderzimmer gelangte, will die Ausstellung heutigen Besuchern nicht mehr ohne Weiteres zumuten.
Als populäres Spielzeug sind Zinnfiguren längst abgelöst worden, von Plastikminiatursoldaten im selben Format oder von den viel größeren Playmobilfiguren. In Schlachtendioramen aber werden sie noch heute in manchen Heimatmuseen gezeigt. Die ästhetischen Möglichkeiten dieser Kunstform wird man nirgends so einleuchtend studieren wie derzeit in Nürnberg.
Mikrowelten Zinnfiguren. Die Sammlung Alfred R. Sulzer. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, bis 26. Januar. Der ausgezeichnete Katalog kostet 38 Euro.
Quelle: F.A.Z.