Stiftung Zinnfiguren-Sammlung Alfred R. Sulzer

Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg: Wie und warum hier hunderte Zinnfiguren aufgebaut werden

Nürnberg – Mehrere hundert Zinnfiguren werden ab Donnerstag, 9. Mai 2024 in einer Sonderausstellung zu sehen sein. Sie stammen aus der umfangreichen Sammlung des Schweizers Alfred R. Sulzer, die ans Germanische Nationalmuseum kommt. Allein die Menge der zierlichen Figürchen stellt das Aufbauteam vor ungewohnte Herausforderungen.

Wer schon einmal eine Reihe Dominosteine aufgestellt hat, kennt das Problem: Eine fal­sche Bewegung mit dem Arm – und schon fällt die gesamte Anordnung um, der Aufbau muss von vorne beginnen. Vor vergleichbaren Herausforderungen steht das Aufbauteam der Sonderausstellung Mikrowelten Zinnfiguren. Wie stellt man hunderte kleiner Figuren auf, ohne, dass sie umfallen und schlimmstenfalls Schaden nehmen, dafür so, dass sie dauerhaft halten, zumindest für die Dauer der Ausstellung, und nach Ende der Schau ohne größeren Aufwand abgebaut und zurück in ihre Schachteln gepackt werden können?

Die meisten Figuren sind keine „Einzelgänger“, sondern Teil größerer Ensembles. Wer an vielfigurige militärische Formationen denkt, liegt nicht falsch, doch die Vorstellung greift zu kurz. Szenen zeigen das alltägliche Leben des 19. Jahrhunderts, Familien beim Spaziergang, beim Zoobesuch oder auf dem Spielplatz, aber auch bedeutende zeitgenössische Ereignisse wie eine königliche Hochzeit oder die Kutschfahrt von Queen Victoria mit ihrem Mann Albert auf dem Weg zur Parlamentseröffnung. Andere stellen literarische Themen nach oder veranschaulichen vermeintlich exotische fremde Welten.

Eine Plexiglasscheibe hilft, manche der Figuren zu stabilisieren.

Eine Plexiglasscheibe hilft, manche der Figuren zu stabilisieren. © Annette Kradisch

Zu ihrem Schutz werden die einzelnen Szenerien hinter Glas in Vitrinen präsentiert. Der Ausstellungsgestalter hat sich dafür einen Trick einfallen lassen: Die Böden der Vitrinen sind herausnehmbar, die Figurenensembles brauchen also nicht in den kleinen Nischen installiert zu werden. Die Bodenplatte, das Ta­bleau, kann mittig im Raum aufgebockt und bequem von allen Seiten bestückt werden. Sind die Figuren korrekt platziert, greift Restauratorin Ilona Stein zu einem Klebewachs, einem kneteartigen Material, das sie mit den Fingern zu kleinen Kugeln formt. Vorsichtig drückt sie diese an der Unterseite der Zinngüsse fest, um die Figuren auf dem Vitrinentableau zu fixieren. „Kleine Unebenheiten am Fuß eines Stücks lassen sich auf diese Weise ebenfalls ausgleichen“, erklärt sie. Das Verfahren ist lang erprobt und wird seit Jahren bei fragilen Objekten in der Dauer­ausstellung des GNM angewendet. Das Klebewachs lässt sich leicht formen und fällt mit seiner milchig-trüben Farbigkeit kaum auf. Es ist unkompliziert und rückstandslos zu entfernen und doch so haltbar, dass man eine Platte mit fixiertem Figurenensemble vorsichtig über eine kurze Strecke transportieren kann. So werden die fertigen Tableaus dann in die Vi­trine eingesetzt.

Doch es gibt auch Formen, bei denen ein einfaches Klebewachskügelchen zur Befestigung nicht ausreicht. Zu einer Serie zur Schlacht bei Kissingen gehört beispielsweise ein Baum, der deutlich höher aufragt als die meisten anderen Exponate und dessen Schwerpunkt daher auch weit höher liegt. Für die Dauer der Ausstellung erhält er eine Stützkonstruktion. Aus einer Plexiglasscheibe laserte die Firma Semper-Plastic in Roßtal eigens eine Form in der Kontur des Baumes. Mit dieser Scheibe wird der Zinnbaum hinterlegt und mit hauchdünnen Nylonfäden festgebunden – er wird quasi dubliert und damit stabiler. Die Plexiglasplatte biegt am Boden um, wodurch sich zudem auch die Standfläche vergrößert.

Das Germanische Nationalmuseum bei Abenddämmerung.

Das Germanische Nationalmuseum bei Abenddämmerung. © imago images/Helmut Meyer zur Capellen, NN

Denn standfest sind grundsätzlich Figuren mit einer Pyramidenform, also breiter Standfläche und einer sich nach oben verjüngenden Silhouette. Herausfordernder sind Stücke mit umgekehrtem Aufbau, beispielsweise ein sich aufbäumendes Pferd, auf dem ein Ritter sitzt, der im ausgestreckten Arm sein Schwert hält. Die Standfläche ist minimal, sie besteht lediglich aus den beiden Hinterhufen des Pferdes. Mitunter bedienten sich die Hersteller schon mancher Tricks, indem sie beispielsweise den Schweif des Pferdes als zusätzliche Stütze bis auf den Boden reichen ließen oder Baumstümpfe geschickt in die Szene integrierten. Ist das nicht der Fall, helfen kleine Plexiglasklötzchen, die unter dem Bauch des Pferdes aufgestellt zusätzlichen Halt geben.

Komplex sind auch Figuren mit beweglichen Teilen wie einem aufklappbaren Helmvisier oder einem mit Schwert bewehrten Arm eines Kämpfers. In der Ausstellung werden zwei Ritterfiguren zu sehen sein, hoch zu Ross und jeweils mit einer Lanze in der Hand. Der Arm mit der Lanze ist mit einem Gelenk am Körper des Ritters vernietet, so dass er sich bewegen lässt. Stellt man die Figuren auf, senkt sich die Stangenwaffe aufgrund ihres Gewichtes
automatisch nach unten und setzt mit der Lanzenspitze auf dem Boden auf. Die Szene soll aber zwei aufeinander zureitende Ritter darstellen, die ihre Lanzenspitzen auf den
jeweiligen Gegner richten. Ist eine Fixierung des Gelenks nicht möglich, helfen auch hier kleine Plexiglaswürfel.

Präzise Wiedergabe der Kleidung

Das figurenreichste Ensemble, das in der Sonderschau aufgebaut wird, zeigt den Glaspalast der Weltausstellung von 1851. An die 100 Einzelelemente werden hierfür nebeneinander arrangiert, die Vitrine ist mehr als einen Meter lang. Wer und was gehört alles dazu? Das entscheidet bei allen Ensembles das Kuratorenteam aus Claudia Selheim und Christin Fleige. Selheim leitet seit 2007 die Spielzeug-Sammlung im Germanischen Nationalmuseum, seit vergangenem Jahr unterstützt durch Volontärin Christin Fleige.

Die Zusammenstellung der Szenen orientiert sich vor allem an den Schachteln, in denen man die Zinnfiguren erwarb: Was damals gemeinsam als Set verkauft wurde, darf auch jetzt zusammen in eine Vitrine. Denn die Frage nach historischer Authentizität ist schwierig zu beantworten. Zum einen bemühten sich Hersteller durchaus um die präzise Wiedergabe von beispielsweise Kleidung, der zeitgenössi­schen Mode, aber auch von Militäruniformen.

Zum anderen stellten die Szenen nicht immer eine Wirklichkeit nach. Vielmehr veranschaulichen sie das Ideal eines Weltbilds, das man seinen Kindern vermitteln wollte. Hersteller nahmen sich dabei durchaus gewisse Gestaltungsfreiheiten. Als spielerisches Lernmedium prägten Zinnfiguren damit die Vorstellungen der nächsten Generationen. Die Sonderausstellung zeigt daher nicht nur faszinierende, filigrane Figuren, sondern bietet auch einen Einblick in die Ideale, Hoffnungen und Wün­sche der Lebenswelt im 19. Jahrhundert.

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Dieser Text ist in der Museumszeitung erschienen, einer Kooperation zwischen dem Verlag Nürnberger Presse und den Museen.

Quelle: Nürnberger Nachrichten